Ich lebe in München. Hier gelten seit dem 19.3. sehr strenge Regeln, das soziale Leben betreffend. Es gibt keine komplette Ausgangssperre, aber gefühlt kommt die Anordnung von sozialer Distanz und massiver Ausgangsbeschränkung einer solchen schon sehr nahe.

Natürlich nagt dies an unseren Nerven. Das beweisen Fernsehsendungen, die immer wieder mit Durchhalteparolen gespickt sind. Aber auch die zahlreichen Hashtags, mit denen nahezu jeder Post oder Story in den sozialen Medien versehen ist. #stayhome #wirbleibenzuhause #daheimbleiben sind nur einige. Ich verwende sie natürlich auch.

Bei einem Spaziergang durch den Englischen Garten bietet sich in diesen Frühlingstagen ein merkwürdiges Bild. Wunderschönes Wetter, aber so gut wie niemand ist dort unterwegs. Vereinzelte Familien, die spazieren gehen, viele Jogger und kleine Grüppchen von Fahrradfahrern (vermutlich auch Familien oder WGs). Da, wo normalerweise tausende von Menschen in der Sonne liegen, Fußball spielen oder picknicken – gähnende Leere.

Am Chinesischen Turm, dem Mekka für Biergartenbesucher*innen aus aller Welt ab dem ersten Sonnenstrahl, sieht man keine Menschenseele. Sogar die Biertische sind weg. Hier scheint die Apokalypse nah und ich wünsche mir fast, ein paar Zombies kämen um die Ecke, damit ich mich nur zwicken muss, um aus dem bösen Traum aufzuwachen.

Leider ist das in diesen Tagen unser aller Realität und ein richtiges Ende ist nicht abzusehen.

Aber was macht es mit uns? Mich selbst aber auch Freunde, Familie und mein direktes Umfeld vor Augen, beginne ich mir darüber Gedanken zu machen. Wenig überraschend kann ich ganz unterschiedliche Verhaltensmuster, Gewinner*innen und Verlierer*innen erkennen.

Plötzlich wollen alle raus

Auch ich bin plötzlich gezwungen, zu Hause zu bleiben. So habe ich Zeit, genauer hinzuschauen. Und ich bin wirklich überrascht.

Da gibt es richtige Couchpotatoes, die in den letzten Jahren kaum mit einem Biergartenbesuch, geschweige denn einer Wanderung aus ihrem Sofa zu bewegen waren. Und plötzlich vermissen sie die Berge, obwohl sie gar nicht wissen, wie es da aussieht. Es gibt diejenigen, die sich seit ihrer Schulzeit standhaft weigern, irgendeinen Sport zu machen. Die beginnen plötzlich zu joggen.

Kinder und Jugendliche, die sich früher mit Händen und Füßen gegen einen Spaziergang mit den Eltern gewehrt hätten, freuen sich plötzlich darauf, denn es ist die einzige legitime Möglichkeit, das Haus zu verlassen. Plastikmüll zum nächsten Container bringen? Alle reißen sich darum, denn auch das ist ein legitimer Grund das Haus zu verlassen. Aber die tollste Aussage kam von einem 17jährigen, der nach zwei Wochen Homeschooling am ersten Tag der Osterferien meinte: „Ich wünschte, ich hätte wieder Schule“.

Mir als Draußenmensch fehlt es natürlich auch. Gerade jetzt im Frühling, wenn ich wieder zum Wandern in die Berge fahren könnte, muss ich mich schon sehr bemühen, vernünftig zu bleiben und nicht dauernd zu jammern.

Warum jetzt plötzlich auch die, von denen man es nie erwartet hätte, nach draußen drängen? Ich glaube, jede*r sehnt sich immer nach dem, was nicht möglich ist, auch wenn man es sonst vielleicht gar nicht vermisst. Oder aber, es wird einigen klar, was sie bisher alles verpasst haben. Andere merken, was vielleicht auch auf lange Sicht nicht mehr möglich sein wird. Der Drang nach draußen vielleicht als Ausdruck ihrer Trauer oder tatsächliche Läuterung?

Andererseits, der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht soziale Kontakte. Ohne sie ist er nichts. Und wenn Kontakte weder in der Arbeit (Homeoffice) noch beim Shoppen, Bummeln oder wie auch immer möglich sind, dann sucht sich die Sehnsucht vielleicht auch individuell ungewöhnliche Bahnen.

Die „Gewinner*innen“

Jeder einzelne ist nun in der ungewohnten Situation, nicht mehr spontan und grundlos das Haus verlassen zu. Niemand hindert uns, aber soziale Kontrolle, Vernunft und auch ein bißchen die Angst hindern uns daran.

Der schnelle unverbindliche soziale Kontakt ist nicht so leicht möglich. Ganz viele Menschensind damit zwangsläufig auf sich selbst zurückgeworfen. Im Fall von Homeoffice sind nicht einmal mehr die normalen Kontakte – natürlich mit 2 Meter Abstand – zu Kolleg*innen möglich. Die Schließung von Restaurants, Cafés, Dienstleistungsbetrieben und ganzer Betriebe, sorgt dafür, dass man plötzlich zwangsläufig auf sich selbst zurückgeworfen ist. Man sitzt zu Hause, hält sich an die Ausgangsbeschränkungen und ist plötzlich mit sich selbst allein. Andere haben plötzlich 24/7 die Familie um sich, auch eine gewöhnungsbedürftige Situation.

Skype oder Apps wie „Houseparty“ können eine Alternative sein, den richtigen echten Kontakt zu Freunden, Kumpels und Familie ersetzen sie nicht.

Es gibt aber auch die „Gewinner*innen“, die sich freuen, endlich ganz legitim zu Hause abhängen zu dürfen. Wenn man ganz genau hinhört, kann man vielleicht den fast kollektiven Freudenschrei der Jugendlichen hören. Endlich ist das, was man sowieso am liebsten macht, gesellschaftlich und sogar von der Bundeskanzlerin legitimiert und sogar erwünscht. Keine genervte Frage der Eltern mehr, ob man nicht mal rausgehen möchte, weil die Sonne so schön scheint. Auch die Frage, ob man seinen Kopf endlich mal vom Bildschirm wegbewegen könnte, fällt flach, denn schließlich benötigt man den ja für‘s Homeschooling. Manchmal verkehrt es sich sogar ins Gegenteil. Bisher nicht so technikaffine Eltern tun es ihren Sprößlingen gleich und hängen auch den ganzen Tag an den Geräten. Social distancing in den eigenen vier Wänden? Kein Problem, denn die Lieblingsecken sind sicher weit genug voneinander entfernt.

Was die Natur aufatmen läßt und aktive Menschen wie mich schier in den Wahnsinn treibt, bedeutet für so manch einen, endlich einmal als normal wahrgenommen zu werden.

Wie geht es mir damit?

Als sehr geselliger und kommunikativer Mensch bedeutet diese Zwangspause auch für mich einen unglaublichen Einschnitt.

Eigentlich bin ich gerne zu Hause, aber ich möchte mich entscheiden können. In den letzten Jahren habe ich zunehmend gelernt, gerne mit mir selbst zusammen zu sein und kann diese Zeit auch genießen. Auch im in Zeiten vor Corona war ich meistens abends viel zu müde, um nach der Arbeit noch wegzugehen. Aber allein das Wissen, es noch nicht einmal theoretisch zu können, weckt in mir den Wunsch es zu tun und mich deshalb ausführlich zu beklagen.

Mein Bruder und meine Tochter leben in Ecuador und London. Ihr könnt euch vorstellen, wie gerne ich jetzt einfach hinreisen würde, obwohl das vorher nie zur Debatte stand.

Aber eigentlich geht es mir gut damit, vor allem wahrscheinlich, weil ich nie ganz alleine bin. Man richtet sich ein. Obwohl: auch das ist manchmal nicht so ganz einfach, wenn man plötzlich so aufeinander klebt… Ich weiß, Jammern auf ganz hohem Niveau…

Die „Verlierer*innen“

Leider gibt es auch Menschen, die auf der Strecke bleiben werden. Damit meine ich in diesem Fall aber nicht diejenigen, die nun vorübergehende wirtschaftliche Probleme durch Kurzarbeit oder Verlust des Arbeitsplatzes haben. Dass sie zu einer wachsenden Gruppe gehören, um die man sich massiv Sorgen machen muss, ist allen klar. Ich meine die leisen Verlierer*innen, deren plötzliche Not nicht so offensichtlich ist. Deshalb sollen sie hier am Ende zumindest aufgezählt werden, um sie wieder in unser aller Bewußtsein rücken.

Die alten Alleinlebenden:

viele ältere Menschen leben allein und weil sie zu einer Hochrisikogruppe gehören, sollten sie die Wohnung möglichst gar nicht verlassen und Besuch ist nicht erlaubt. Ich bin ganz ehrlich, ich weiß nicht, wie man das über einen längeren Zeitraum schafft, ohne verrückt zu werden.

Psychisch Kranke:

Menschen mit psychischen Erkrankungen benötigen ein (professionelles) Netzwerk und Struktur im Alltag. Beides bröckelt in diesen Zeiten und wäre doch gerade jetzt so wichtig. Ich hoffe nicht, dass sich das durch eine steigende Zahl von Suiziden bemerkbar macht

Opfer von häuslicher Gewalt

Viele Frauen (und auch Männer) und Kinder, die nun durch das Aufeinander hocken zu Hause, den Jugendamtszuständigen sehr reduzierten persönlichen Kontakt zu und die fehlende soziale Kontrolle durch Kita und Schule zu Hause gefährdeter sind denn je. Der gefährdende Elternteil bzw. Partner ist jetzt 24/7 zu Hause und weder für den anderen noch für die Kinder gibt es ein Entrinnen. Da reicht häufig ein völlig nichtiger Anlaß, das ganze System explodiert und …, aber das möchte ich mir gar nicht ausmalen.

Obdachlose auf der Straße und in Pensionen und Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften habe ich nicht vergessen, aber die haben wir ja alle eh als die Verlierer auf dem Schirm.