Seit nunmehr fast zwei Wochen gelten die massiven Ausgangsbeschränkungen in München und sie werden noch mindestens zwei Wochen dauern. Viel Zeit, um zu reflektieren und nachzudenken. Gezwungenermaßen ist man mehr auf sich selbst und die eigenen Gedanken zurückgeworfen. Da mir Schreiben hilft, besser mit der Situation zurecht zu kommen und mich zu sortieren, gibt es ab jetzt in lockerer Folge meine Gedanken zu Corona, denn auch die gehören zu meinem Leben.
Als Kind der 70er und 80er Jahre, bin ich sorglos und immer in allgegenwärtiger Freiheit aufgewachsen. Gemangelt hat es mir an Nichts: weder an den persönlichen und in einer Demokratie selbstverständlichen Freiheiten, noch an irgendwelchen anderen. Alles war immer und überall verfügbar. Ob ärztliche Versorgung, Reisen, Bekleidung oder Luxusgüter, man machte sich einfach keine Gedanken darüber.
Ja, selbst die Freiheit, einmal nicht zu konsumieren oder auf etwas zu verzichten war da, man wusste ja immer, dass man zurück kann. Diese Freiheit konnte man sich leisten, Minimalismus wurde zum neuen Statussymbol und oftmals wurde man dafür beklatscht und bewundert.
Seit einem Monat ist das anders. Plötzlich sind viele Freiheiten beschnitten:
- die Freiheit zu Reisen
- die Freiheit, ohne Grund das Haus zu verlassen
- die Freiheit, einfach zum Arzt zu gehen
- die Freiheit den Job zu wechseln (nicht ausdrücklich)
- die Freiheit, das zu konsumieren und zu kochen, was man möchte
- die Freiheit, liebe Menschen zu treffen
- die Freiheit …
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Letztendlich steht auch die Freiheit, frei zu sein, auf dem Spiel. Denn in meinen Augen ist das besonders Abstruse daran der Umstand, dass wir uns das alles nehmen lassen, ohne es kritisch zu betrachten, zu reflektieren und vielleicht auch lautstark zu protestieren (da nehme ich mich nicht aus)
Ein paar der Aspekte lohnen sich, genauer betrachtet zu werden:
Die Freiheit, zu reisen
Der deutsche Reisepass ist einer der Besten der Welt, denn er eröffnet uns das Reisen überall hin völlig problemlos. Wir können reisen, wohin wir wollen und das (fast) immer problemlos.
In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts blickten wir alle mitfühlend in die damalige DDR. Dort gab es Gleichaltrige, die nicht einfach mit einem Interrail-Ticket, wenig Geld und einem Schlafsack die Welt oder zumindest Europa erkunden konnten.
Und heute? Die Coronazeiten lassen uns ein kleines Bißchen erahnen, wie das gewesen sein muss.
Der Staat, das Infektionsschutzgesetz und die Vernunft gebieten uns, zu Hause zu bleiben. Natürlich ist das gut, verantwortungsvoll und auch richtig!!
Aber wie wird es nach Corona sein? Was ist nach der zunehmenden Nationalstaatlichkeit im Moment mit unseren offenen Grenzen, mit unserem offenen Europa? Haben wir alle danach noch die Kraft, die aufgestellten Grenzzäune wieder einzureißen? Oder nutzen einige Staaten bzw. „Machthaber“ die Gunst der Stunde, um längst überholte Zustände wieder herzustellen? Mir wird ganz mulmig bei dem Gedanken an endlose Staus und grimmig blickende Grenzbeamte mitten in Europa. Wenn ich mich so umblicke, glaube ich leider, das wir nicht so ganz weit entfernt davon sind. Und ob wir nach Corona so frei in der ganzen Welt herumfliegen können, wie wir es gewohnt sind, bezweifel ich ganz kräftig – leider.
Die Freiheit, zu konsumieren, was man möchte
Ach, wie waren Januar und Februar schön. Wir schwelgten, wie die Jahre zuvor in einer schier unüberschaubaren Konsumwelt. Manche von uns wurden sogar dessen schon überdrüssig, das war der neue Luxus.
Und jetzt? Bewußter Verzicht und Minimalismus wird sicher bei einigen bleiben. Für die anderen hat sich das Leben Anfang März schlagartig verändert.
Plötzlich spielen Konsumgüter, über die man vorher nicht nachgedacht, geschweige gesprochen hat, eine durchaus tagesfüllende Rolle.
Anfang März, zwei Tage vor der allgemeinen Ausgangsbeschränkung, hatte unser Vierpersonenhaushalt nur noch eine Rolle Toilettenpapier – wir nannten sie Erna. Erna war uns lieb und teuer und wir wollten sie nur ungern verlieren. Also machten wir uns auf die Suche nach Klopapier, ein Kraftakt zumal an diesem Wochenende. Wir schwärmten nun also alle aus, nachdem Toilettenpapier in den fünf umliegenden Drogerie- und Supermärkten ausverkauft war, um nach Gesellschaft für Erna zu suchen.
Nach sage und schreibe zwölf weiteren Geschäften im sehr viel vergrößerten Radius, konnte mein Sohn eine Packung in einem weit entfernten Stadtteil auf der anderen Seite der Isar ergattern.
Ein großes hörbares Aufatmen ging durch unsere Wohnung. Auch die Überlegung, bei nächster Gelegenheit noch eine Packung Toilettenpapier zu kaufen, um nicht wieder in die Verlegenheit zu kommen, wurde laut. Wir haben aber davon Abstand genommen, hamstern liegt uns einfach nicht und zur Not haben wir ja noch Erna.
Aber im Ernst, diese Klopapiersuche war für mich der Startschuß, das Szenario genauer zu beobachten. Und tatsächlich, die überflutende Warenwelt scheint erst einmal Geschichte zu sein. Alle Geschäfte jenseits von Lebensmittelgeschäften, Drogeriemärkten und Tabakläden sind geschlossen. Auch die sind, trotz aller Bemühungen nicht mehr so überboardend gefüllt, wie wir es kennen.
Spontan Spaghetti Bolognese kochen? Schwierig, denn irgendetwas ist immer gerade nicht vorrätig. Sei es Hackfleisch, Nudeln oder Dosentomaten. Man kocht also sein Wunschgericht nicht wie gewohnt dann, wenn man Lust dazu hat, sondern dann, wenn man alles zusammengesammelt hat. Geht natürlich auch, und da singe ich auch ein Hoch auf die Kreativität vieler Menschen derzeit in der Küche, aber: wie herrlich war die Freiheit, den Speiseplan selbst zu bestimmen oder auch mal Essen zu gehen.
Die Freiheit, ein soziales Leben zu führen
In meinem Empfinden ist diese Freiheit massivst eingeschränkt und ich bin ehrlich, ich leide darunter. Kein Skypetelefonat mit meiner Tochter in London ersetzt ihren geplanten Besuch über Ostern und Telefonate mit Freunden sind einfach etwas anderes, als ein persönliches Treffen.
Dieses selbstbestimmte Treffen anderer, ob Familie, Freunde oder Bekannte gibt es einfach nicht mehr, sind nicht mehr erlaubt.
Um dies überwachen zu können, erhielt die Polizei im Rahmen des Infektionsschutzgesetze neue Möglichkeiten, einen Bußgeldkatalog dafür gibt es auch schon. Das ist auch in Ordnung, zumal es genug Idioten mit wenig Vernunft gibt, die es anders nicht kapieren.
Schlimm sind aber die großen und kleinen heimlichen und unerkannten Überwacher*innen, die ich jetzt einfach mal als das bezeichne, was sie sind: Denunziant*innen. Sie melden „Zusammenrottungen“, wenn sich mal drei Menschen in korrektem Abstand zueinander an der Straßenecke unterhalten oder „Coronapartys“, wenn es in der Nachbarwohnung mal lauter wird.
Natürlich haben wir den 80ten Geburtstag meiner Mutter nicht gemeinsam gefeiert, Kuchen und Geschenke sollte sie trotzdem bekommen. Als Einkauf getarnt, die Torte gut in einer Alditasche versteckt, transportierten wir dies alles zu meinen Eltern. Immer ein bißchen die Sorge im Nacken, dass man wegen „nicht notwendigen Verlassen der Wohnung“ aufgehalten wird.
Schon allein, dass ich mir darüber Gedanken mache, sagt ja wohl schon alles. Spätestens da wurde mir bewußt, wie schützenswert unsere Freiheit ist und wie zerbrechlich sie gerade jetzt zu sein scheint.
Die Freiheit, menschlich zu bleiben
In einem Streit am Telefon habe ich vor einer Woche einmal gesagt: „Rational verstehe ich das alles und trotzdem bleibe ich ein Mensch mit Gefühlen“. Mein Gegenüber fühlte sich sofort angegriffen und abgewertet. So war es natürlich nicht gemeint.
Mein Aufreger war ein Gespräch darüber, wie es den Hilflosesten unserer Gesellschaft geht und wie man mit ihnen umgeht. Wir lesen viel über den Mangel an Klopapier und natürlich über die wirtschaftliche Situation Vieler durch die massiven Einschränkungen.
Aber wie gehen wir mit den jetzt schon Ärmsten um? Und sind wir ehrlich, wir leben im Umgang mit diesen Hilflosesten unserer Gesellschaft oft nach dem Motto: Hauptsache wir retten uns selbst und uns geht es gut. Dabei bleibt die Menschlichkeit oft auf der Strecke, auch wenn wir für ältere Nachbarn einkaufen gehen oder Lebensmittel für Obdachlose an den Zaun hängen.
Wo ist aber jetzt die Sorge um die vielen geflüchteten Menschen auf Lesbos und um die, die immer noch im zerstörten und umkämpften Syrien sind? Wo ist die Sorge um die Menschen, die versuchen, über das Mittelmeer einer furchtbaren und entmenschlichenden Situation in Libyen zu entfliehen? Wo ist die Sorge, wenn wir von Polizisten in Indien lesen, die die Menschen wegen Corona nach Hause prügeln? Wer fragt sich noch, wie es den obdachlosen Familien in Pensionen oder den geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften geht, die den gebotenen Abstand gar nicht wahren können.
Auch sie haben die gleiche Angst und Sorgen vor Corona, aber es scheint nur die wenigen, die sich beruflich mit ihnen beschäftigen, zu interessieren.
Ein Instagrampost von vorgestern hat mich in diesem Zusammenhang sehr sauer gemacht und den Anstoß zu diesem Blogpost gegeben: auf einem Foto von einem wunderschönen Sonnenaufgang stand: „hätten wir all das Geld, das wir die letzten fünf Jahre in die Flüchtlinge gesteckt haben noch, hätten wir kein Problem in den Krankenhäusern“.
Ganz ehrlich: alles in allem finde ich den Beschnitt unserer Freiheiten, aber vor allem die immer weiter um sich greifende Kritiklosigkeit, Obrigkeitshörigkeit und Egoismus fast schlimmer, als die Corona Pandemie.
DIE IST IRGENDWANN VORBEI, ABER ALLES ANDERE?
Genau deiner Meinung. Für viele ist gerade wichtig was einem persönlich Betrifft. Und vermutlich sogar nur die Probleme die gerade in der Presse breitgetreten werden. Kriege und Flüchtlinge sind im Moment Nebensache, weil nicht auf dem abendlichen Fernsehschirm präsent.
Und was lernt der Mensch daraus? Nichts.
danke, lieber Christoph 🙂 die Hauptsache ist frei und gesund bleiben